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Von Leo Bach (lb)

„Da, wo sie hingehört“ Gladbach-Experte sieht Borussia als graue Maus – und nennt wichtigstes Spiel

Ein Banner in der Nordkurve mit der Aufschrift „Tradition ist nicht nur eine Zahl, sondern das Ergebnis einer Geschichte“.

"Tradition ist nicht nur eine Zahl, sondern das Ergebnis einer Geschichte", schreibt die Nordkurve beim Heimspiel gegen Hoffenheim am 3. Mai 2025.

Im Jahr 2025 feiert Borussia Mönchengladbach 125-jähriges Bestehen. Mit großen Feierlichkeiten und einem Testspiel gegen den FC Valencia (2. August) lädt der Verein zum Blick auf die ereignisreiche Historie ein.

Holger Jenrich ist Autor und ausgewiesener Experte des Traditionsvereins vom Niederrhein. Er nutzte das Jubiläum, um im Buch „Borussia Mönchengladbach – Die 100 wichtigsten Spiele“ einen Überblick über die Geschichte seines Herzensklubs zu geben. GladbachLIVE sprach mit ihm über sein Buch und darüber, wie es in der aktuellen Zeit um die Fohlen steht.

Wichtigste Gladbach-Partie? „Erst mit diesem Spiel richtig ernst genommen“

Herr Jenrich, Sie haben die 100 wichtigsten Spiele der Vereinsgeschichte von Borussia Mönchengladbach erfasst, aufgelistet und beschrieben. Dabei sind neben Titelgewinnen natürlich auch Abstiege, Derbysiege, Pokaldramen und reichlich Kuriositäten abgebildet. Die Aufarbeitung der Spiele haben Sie chronologisch aufgezogen. Aber welches Spiel war denn das wichtigste?

Da wird man wahrscheinlich mehrere Antworten geben können, je nachdem wie alt man ist. Ich glaube, dass das wichtigste Spiel wahrscheinlich das im April 1970 war – das 4:3 gegen den Hamburger SV, das zum ersten deutschen Meistertitel führte und die Borussia endgültig auf die nationale und internationale Landkarte des Fußballs brachte. Alles Weitere – der Pokalsieg gegen Köln, die UEFA-Pokal-Siege, das Landesmeister-Finale 1977 gegen Liverpool – kam danach. Da war Borussia schon wer. Aber so richtig ernst genommen wurde der Verein erst durch die erste Meisterschaft. Und die wurde eben in diesem wegweisenden Spiel gegen den HSV klargemacht.

Holger Jenrich steht mit einem Ball in der Hand vor einer Hauswand.

Autor Holger Jenrich ist ausgewiesener Gladbach-Experte und hat bereits mehrere Bücher über die Fohlen verfasst.

Sie haben den ersten Titel angesprochen. Würden Sie sagen, dass die vergangenen zwei titellosen Jahrzehnte dann insgesamt weniger Stoff für wichtige Spiele geliefert haben?

Natürlich. Aber zum Beispiel dieses De Camargo-Tor im Relegationsspiel gegen Bochum 2011 ist auch unglaublich relevant für die Geschichte des Vereins und für die jüngeren Fans. Der 1:0-Sieg gehört definitiv zu den wichtigsten Spielen der Vereinsgeschichte.

In Ihrem Buch betrachten Sie die Spiele der Elf vom Niederrhein ja nicht nur zu Zeiten des Erfolges, sondern auch zu Zeiten der Niederlage. Sie beschreiben Geisterspiele und Auftritte auf der großen europäischen Bühne. Das alles zeigt: Dieser Verein hat sich extrem verändert und ist auch immer weiter im Wandel. Ist das für Sie trotzdem alles dieselbe Borussia?

Nein, natürlich nicht. Alle Vereine, auch die Borussia, haben sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte selbstverständlich verändert und werden sich weiter verändern. Gladbach ist aber trotzdem mein Verein. Das werden Ihnen wahrscheinlich alle, die mit Fußball zu tun haben, sagen: Wenn man sich einmal in einen Verein verguckt hat, dann verlässt man einander nicht mehr. Als kleiner Junge, als ich sechs, sieben, acht war, also in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, da ist die Borussia mein Verein geworden und ist es bis heute geblieben – trotz aller Veränderungen, mit denen ich bisweilen natürlich fremdele oder die ich manchmal nicht für richtig halte. Aber so ist das eben. Mit seiner Frau oder seiner Freundin ist man ja auch nicht immer zu 100 Prozent einverstanden…

Sie haben es gerade schon angesprochen: Für Sie hat es als kleiner Junge damals angefangen bei einem Gastspiel in Dortmund, Rote Erde. Wissen Sie selbst ungefähr, bei wie vielen Gladbach-Spielen Sie live dabei waren in Ihrem Leben?

Nein, das kann ich nicht sagen, ich hebe keine Eintrittskarten auf. Ein paar Hundert sind es sicher. Die Borussia im Mai 1971 live spielen zu sehen, war für mich damals eine Ausnahme. Nach Dortmund hatte ich es nicht weit, ich bin 15 km entfernt aufgewachsen. Der Bökelberg war für einen Jungen von elf oder zwölf Jahren einfach ziemlich weit weg. Nach Mönchengladbach bin ich zum ersten Mal gekommen, als ich 16 war, würde ich tippen. Damals gab es in meiner Klasse einen Mitschüler, der älter war und schon ein Auto unterm Arsch hatte. Mit ihm bin ich dann von Lünen nach Gladbach gefahren. Danach war ich häufiger da.

Das 100. Spiel, also das letzte im Buch dokumentierte, ist der Gladbacher 3:0 Heimsieg über den VfL Bochum am 25. Januar 2025. Mittlerweile ist die Saison abgeschlossen. Kam seitdem noch ein Spiel dazu, das es in die engere Auswahl geschafft hätte?

Ja, natürlich. Ich habe auch mit dem Verlag geredet, aber da waren Satz und Grafik schon so weit fortgeschritten, dass wir es gelassen haben. Es ging um die Premiere von Tiago Pereira Cardoso – durch das Spiel Anfang März in Heidenheim ist er ja der jüngste ausländische Torhüter der Bundesligageschichte geworden. Wenn wir diese Partie noch ins Buch genommen hätten, wäre natürlich eine andere wieder rausgeflogen. Das wäre vielleicht das Spiel gegen den BVB gewesen, in dem sich Cvancara die schnellste Gelb-Rote Karte der Geschichte abgeholt hat.

Wie schätzen Sie persönlich die nun abgeschlossene Saison ein?

Ich glaube, Borussia ist da gelandet, wo sie hingehört. Zwischendurch Platz fünf war zwar schön. Und dass alle von Champions League und Europapokal gesungen haben, war auch schön. Aber Borussia ist ja nicht die fünftbeste Mannschaft der Bundesliga. Dass sie als eine Art graue Maus im Mittelfeld gelandet ist, das ist schon in Ordnung. Ich glaube auch, dass man von viel mehr zurzeit nicht träumen kann und träumen sollte. Als Gladbach-Fan ist man ja eigentlich schon in den letzten Jahrzehnten, von einigen Jahren des Höhenflugs zwischendurch mal abgesehen, damit einverstanden, dass man nicht mehr zur Creme der Bundesliga gehört, aber eben doch zur Bundesliga. Ich glaube, das ist etwas, womit man als Gladbach-Fan zufrieden sein muss. Der Verein spielt in der höchsten deutschen Spielklasse, aber auch das ist nicht für immer in Stein gemeißelt. Dafür muss man viel tun. Und es wird vielleicht auch wieder einige Jahre geben, in denen der Klub zur zweiten Liga gehört. Von daher sollte man ein wenig demütiger sein und sich sagen: ‚Wir sind momentan Erstligist. Und das ist eine gute Leistung für diesen Verein.

Seoane „begeistert“ nicht – sonst tat das aber auch kaum noch einer

Sie sagten gerade, Borussia ist da gelandet, wo sie hingehört. Heißt das im Umkehrschluss, dass Sie die Entscheidung der Vereinsführung, an Trainer Gerardo Seoane festzuhalten, unterstützen?

Das weiß ich gar nicht so richtig. Auf der einen Seite unterstütze ich, dass man einen Trainer nicht immer wieder nach einem Jahr oder nach zwei Jahren entlässt. Auf der anderen Seite ist der Fußball, den Seoane spielen lässt, keiner, der mich begeistert. Ich wüsste aber auch nicht, was oder besser wer jetzt stattdessen kommen sollte. Wird es besser, wenn man Oliver Kirch oder Eugen Polanski hochholt? Und die Trainer, die auf dem Markt sind, sorgen die mit den Spielern, die in Gladbach zur Verfügung stehen, zwangsläufig für einen besseren Fußball? Die Probleme, die sich momentan auftun, gibt es ja schon länger. Man hat ja gesehen, dass in den Jahren zuvor Farke oder Hütter auch nicht funktioniert haben. Seoane ist jetzt der nächste, bei dem man denkt: Mensch, das hätte aber besser laufen können. Von daher glaube ich, dass die Enttäuschungen der letzten Jahre mehr mit der Kaderzusammensetzung zu tun haben als mit dem konkreten Trainer.

Sie sagten gerade, Seoane ist keiner, der Sie begeistert. Das spiegelt sich auch so ein bisschen in Ihrem Buch wider. Aus diesen 100 wichtigsten Spielen sind sechs enthalten, in denen Seoane an der Seitenlinie stand. Nur eines von denen, die sie aufgelistet haben, wurde gewonnen (3:0-Heimsieg gegen Bochum). Ist Seone kein Trainer für die großen Erfolgsmomente?

Das wäre vielleicht arg einfach gedacht. Trainer wie Bongartz, Meier, Fach oder andere, die tauchen in meinem Buch überhaupt nicht auf. Damit verglichen, ist Seoane schon erfolgreicher. Es hat einfach in den zwei Jahren, in denen er da ist, nur wenige Spiele gegeben, bei denen den Fans so richtig das Herz aufgegangen ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren die letzten Herzaufgeh-Spiele wahrscheinlich unter Favre oder Rose. Aber es gab auch viele Favre- oder Rose-Spiele, die grottig waren…

Gab es für Sie in der Recherche ein Spiel, das Ihnen besonders viel abverlangt hat?

Emotional einiges abverlangt hat mir vor allem Dingen die Erinnerung an die Niederlage im Pokalfinale 1992 gegen Hannover 96. Acht Jahre zuvor gegen Bayern im Finale zu verlieren, mit diesem Elfmeter-Fehlschuss von Matthäus als Höhepunkt, das war ärgerlich. Aber die Niederlage 1992, nachdem im Halbfinale Uwe Kamps gleich vier Elfmeter gegen Leverkusen gehalten hat… Da spielt Borussia gegen einen Zweitligisten, der auch keine gute Zweitliga-Saison gespielt hat, schafft es nicht, in 120 Minuten ein Tor zu schießen, und verliert dann nach dem wahrscheinlich schlechtesten Pokalfinale aller Zeiten das Elfmeterschießen. Das tut im Nachhinein immer noch weh. Damals bin ich übrigens eine Woche nach der Pleite gegen Hannover für drei Monate nach Namibia geflogen, um da journalistisch zu arbeiten. Ich war im Vorfeld überzeugt, die Reise mit dem Glücksgefühl anzutreten, dass mein Verein frisch gebackener Pokalsieger sein würde. Es kam anders. Beim Niederschreiben kam das alles noch mal ein bisschen hoch…

Davon abgesehen, waren wegen der schlechten Quellenlage vor allem Spiele aus früheren Zeiten herausfordernd. Ganz besonders war in diesem Zusammenhang das Spiel aus dem August 1965 gegen SC Grün-Weiß Enzen, es war der höchste Sieg der Vereinsgeschichte. Borussia hatte sich in der Bundesliga-Aufstiegsrunde qualifiziert für die erste Liga. Kurz vor Saisonbeginn gab es in der Vorbereitungsphase dann dieses Spiel gegen den kleinen Klub aus der Voreifel. Borussia gewann 30:1.

Über diese Partie etwas herauszufinden, war kompliziert. Den Verein gibt es nämlich nicht mehr, er ist 1972 aufgelöst worden. Unterlagen oder Berichte dazu gibt es kaum. Es gibt keine genaue Mannschaftsaufstellungen, keine genaue Torfolge. Man weiß nur, welche drei Spieler bei Borussia eingewechselt wurden, aber nicht, wann das war und für wen. Und man weiß, dass Netzer insgesamt 14 Tore geschossen hat, über die anderen Torschützen ist nichts bekannt. Selbst der Name des Torschützen von Grün-Weiß Enzen bleibt ein bisschen im Unklaren. Ob der nun Scharmach oder Scharnow hieß, das ist nicht zweifelsfrei herauszubekommen.

„Ich glaube nicht, dass Borussia Mönchengladbach da wichtig ist“

Herr Jenrich, wer waren der wichtigste Spieler und der wichtigste Trainer bei Borussia Mönchengladbach?

Der wichtigste Trainer war ganz klar Weisweiler. Vorher war Borussia eine weitgehend unbedeutende Mittelfeld-Mannschaft. Der Verein hat zwar 1960 den Pokal geholt, völlig überraschend, aber das war ein Ausreißer nach oben. Eigentlich spielt er nie oben mit, kämpfte häufig gegen den Abstieg und landete oft auf Platz 11, 12, 13, 14. Weisweiler hat einfach vieles verändert. Die ganze Entwicklung, die spätestens Ende der 60er, Anfang der 70er für alle sichtbar war, die wäre ohne ihn nicht so möglich gewesen.

Bei den wichtigsten Spielern würden vermutlich fast alle spontan sagen: Günter Netzer. Eben weil er diese Entwicklung unter Weisweiler in seinen zehn Jahren als Borusse entscheidend befördert hat, von der Regionalliga bis in die internationale Spitze. Aber kann man das wirklich so sagen? Schließlich hat jede Ära ihre eigenen Spieler. War vielleicht Heinz Ditgens der wichtigste Spieler? Er war 1936 immerhin der erste Nationalspieler des Vereins und machte den Namen Mönchengladbach unter Fußballfreunden auch über die Grenzen des Niederrheins hinaus bekannt. Oder war es Albert Brülls, 1962 der erste WM-Teilnehmer der Borussia? Ich glaube, jede Generation und jede Epoche hat ihren ganz eigenen wichtigsten Spieler.

Zum Abschluss noch eine Frage mit Blick auf die aktuelle Situation. Viermal in Folge landete Gladbach jetzt auf einem zweistelligen Tabellenplatz in der Bundesliga. Zahlreiche Vereinslegenden haben in den letzten Jahren ihre Karriere beendet. Sie sagten auch selbst schon, man taumelt irgendwo zwischen Europa-Sehnsucht und dem tristen unteren Tabellendrittel. Wie wichtig ist Borussia Mönchengladbach überhaupt noch?

Borussia Mönchengladbach bedient immer noch eine Sehnsucht. Wenn man sich die TV-Quoten anschaut, dann sieht man, dass Dortmund und Bayern natürlich uneinholbar vorne liegen, aber Gladbach im vorderen Drittel dabei ist. Und wenn man guckt, welche Stadien bei welchem Gastverein ausverkauft sind, dann ist die Borussia auch da weit vorne. Der Verein lebt von der Vergangenheit, von dem Mythos, hat natürlich Patina angesetzt, aber diese Patina hat ja auch was Schönes. Nicht zuletzt für meine Generation ist Borussia Mönchengladbach sicherlich noch wichtig.

Aber auch für jüngere Leute, vor allen Dingen aus der Region. Ob Borussia Mönchengladbach – von den beinharten Fans mal abgesehen – aber etwa in Bayern, Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz noch von größerer Bedeutung ist? Das bezweifle ich. Die würden wahrscheinlich „schade“ sagen, wenn Gladbach wie viele andere Traditionsvereine durchgereicht würde in unterklassige Ligen, aber damit hätte es sich wohl. In Nordrhein-Westfalen allerdings und speziell im Rheinland, da ist und bleibt die Borussia natürlich sehr, sehr wichtig.

Das Buch „Borussia Mönchengladbach – Die 100 wichtigsten Spiele“  (ISBN: 978-3-96423-132-1) von Holger Jenrich erscheint im Arete-Verlag und ist u.a. erhältlich auf arete-verlag.de. Das Interview führte Leo Bach.