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Von Achim Müller

50 Jahre Pokal-Märchen gegen Köln Gladbach-Legende packt aus! So war das wirklich mit Weisweiler

Hennes Weisweiler (r.), Trainer-Legende von Borussia Mönchengladbach, im Gespräch mit seinem Spielmacher Günter Netzer (l.). Dieses Foto zeigt die beiden am 25. Juli 1971. Die beiden sitzen jeweils auf einem Fußball.

Hennes Weisweiler (r.), Trainer-Legende von Borussia Mönchengladbach, im Gespräch mit seinem Spielmacher Günter Netzer (l.). Dieses Foto zeigt die beiden am 25. Juli 1971.

50 Jahre Pokalsieger-Märchen! Am Freitag (23. Juni 2023) feiert Gladbach den historischen Triumph von Düssseldorf, als die Fohlen-Elf vor einem halben Jahrhundert im Finale den Rheinland-Rivalen 1. FC Köln mit 2:1 in der Verlängerung niederringen konnte. 

Der 23. Juni 1973 ist der Tag gewesen, an dem Günter Netzer (78) mit seiner Selbsteinwechslung samt fulminantem Siegtreffer Borussia Mönchengladbach zum DFB-Pokalsieger krönte und zugleich ein Kapitel deutscher Fußballgeschichte schreiben konnte.

Im Interview mit dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND) hat Netzer sich nun noch einmal ausführlich zu diesem außergewöhnlichen Pokalendspiel geäußert.

Gladbach-Legende Günter Netzer spricht über das berühmte DFB-Pokalfinale von 1973

So sagt der Welt- und Europameister mit einem Lächeln: „Ich habe ein wunderschönes Erlebnis gehabt. Und ein, glaube ich, auch historisches Erlebnis. Ich weiß nicht, wie so etwas passieren konnte. Ich bin irgendwie ferngesteuert gewesen. Ohne esoterische Motive oder höhere Mächte, die möglicherweise im Spiel waren. So etwas hat es noch nie gegeben und wird es in den nächsten 100 Jahren nicht mehr geben, weil die ganze Geschichte so einzigartig ist. Und 50 Jahre haben wir ja jetzt schon geschafft.“

Der 1983 verstorbene Hennes Weisweiler, die große Trainer-Legende, hatte Superstar Netzer zum Pokalendspiel gegen 1. FC Köln auf die Bank degradiert. Weisweiler soll verärgert darüber gewesen sein, dass sein Spielmacher nach dem Finale zu Real Madrid wechselte. Netzer war damals auch nicht in Form. Seine Mutter war vor dem Endspiel verstorben, zudem waren Medienberichte aufgetaucht, die Mutter habe angeblich nicht verkraftet, dass er bei Real Madrid einen Vertrag unterzeichnet hatte.

Netzer: „Ich will nicht sagen, dass mir das bis heute in den Knochen steckt. Doch diese oberflächliche Sichtweise einiger Journalisten, so eine menschliche Unverschämtheit zu Papier zu bringen, war eine fürchterliche Erfahrung. Meine Mutter hat sich über meinen Transfer zu Real sogar gefreut. Das war alles wunderbar für sie. Keineswegs gab es da eine Beziehung der Dinge zu ihrem Tod. Das war haarsträubend, enttäuschend. Ich hatte nur noch pure Verachtung übrig.“

Dass Weisweiler ihn gegen Köln dann auf die Bank gesetzt hatte, dazu sagt Netzer rückblickend: „Als Trainer hatte Weisweiler eigentlich richtig gehandelt. Den Tod der Mutter, meine körperliche Verfassung, das hat er alles gespürt. Doch im Nachhinein will ich ihm unterstellen, dass da auch persönliche Dinge im Spiel waren, dass er es mir zeigen wollte, dass er es auch ohne mich schafft. Fachlich war das nicht so falsch. Er hätte es jedoch besser wissen müssen.“

Auf die Frage, warum Weisweiler es hätte besser wissen müssen, berichtet Netzer dem „RND“ ausführlich von einem Erlebnis in Rom.

DFB-Pokalfinale 1973: Günter Netzer erzielt für Borussia Mönchengladbach in der Verlängerung den Siegtreffer zum 2:1 gegen den 1. FC Köln. Der Ball schlägt unhaltbar im Torwinkel ein.

DFB-Pokalfinale 1973: Günter Netzer erzielt für Borussia Mönchengladbach in der Verlängerung den Siegtreffer zum 2:1 gegen den 1. FC Köln.

„1972 hatte ich mir die große Zehe gebrochen. Er lud mich ein zum Freundschaftsspiel nach Rom. ‚Warst du schon mal in Rom?‘ Ich: ‚Nein.‘ Er: ‚Großartige Stadt.‘ ‚Dann komme ich gerne mit‘, sagte ich. Als das Spiel näherkam, sagte er: ‚Wir haben ein Problem. Wir kriegen kein Geld, wenn du nicht spielst.‘ Ich: ‚Herr Weisweiler, Sie wissen doch, was mit mir los ist. Ich kann kaum gehen.‘ Er: ‚Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Du kriegst eine Spritze. Die hält 45 Minuten. Wenn wir nach der Pause wieder rausgehen, kriegst du noch mal eine Spritze.‘ Ich schaute ihn ungläubig an: ‚Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?‘ Dann habe ich alle meine persönlichen Dinge zurückgestellt. ‚Ehe wir kein Geld kriegen, mache ich das‘, sagte ich. Meinen Schrei bei der Spritze konnte man durchs ganze Olympiastadion hören. Wir hatten einen wundervollen Tag, ich machte eines der besten meiner Spiele, schoss zwei Tore, in den Zeitungen stand: ‚Der weiße Pele war da.‘“

Was das mit dem DFB-Pokalendspiel vom 23. Juni 1973 gegen Köln zu tun habe, dazu sagt Netzer schließlich: „Weisweiler hätte wissen müssen, dass ich unter widrigsten Umständen zu großartigen Leistungen fähig war. Doch die eigentliche Unverschämtheit war die: Er wollte mich in der Halbzeit einwechseln. ‚Nein‘, sagte ich. ‚Wir machen gerade das beste Spiel der ganzen Saison, das kann ich nicht verbessern.‘ Wir kamen wieder raus, die Fans haben sich die Finger wundgepfiffen, weil ich nicht dabei war. Die wussten ja von nichts. ‚Dieser sture Bock hat ihn immer noch nicht eingewechselt‘, schimpften sie.“

Netzer beschreibt weiter, wie er zunächst das Endspiel gegen Köln als Zuschauer von der Ersatzbank aus wahrgenommen hatte. „Das Spiel lief genauso gut wie in der ersten Halbzeit. Vielleicht eines der besten Pokalendspiele, das je in Deutschland stattgefunden hat.“

Weiter berichtet er, wie es aus seiner Wahrnehmung heraus zur legendären Selbsteinwechslung vor der Verlängerung beim Stand von 1:1 gekommen war.

„Da kam Christian Kulik auf mich zu, fällt vor meinen Füßen zu Boden. ‚Was ist Christian? Kannste nicht mehr?‘, fragte ich. ‚Ich kann nicht mal mehr aufstehen‘, sagte er. Kulik, dieses großartige Talent, guter Charakter, dem die Zukunft offenstand. Ich habe den geliebt.“

Gladbach-Legende Günter Netzer dreht mit dem DFB-Pokal in seiner rechten Hand nach dem Endspielsieg gegen den 1. FC Köln (23. Juni 1973) im Düsseldorfer Rheinstadion eine Ehrenrunde.

Gladbach-Legende Günter Netzer dreht mit dem DFB-Pokal in seiner rechten Hand nach dem Endspielsieg gegen den 1. FC Köln (23. Juni 1973) im Düsseldorfer Rheinstadion eine Ehrenrunde.

Netzer sagt, er sei in diesem Moment „ferngesteuert“ gewesen. 

„Ich habe es nicht bewusst getan, weiß es bis heute nicht: Zieh ich mir die Trainingsjacke aus, die Hose aus – die Zuschauer fangen an, mich zu feiern –, laufe ich an der Bank vorbei, sage: ‚Herr Weisweiler, ich spiel denn jetzt.‘ Ohne eine Reaktion abzuwarten bin ich aufs Feld. Und dann passiert was, das kann man nicht erklären. Mit Rainer Bonhof, sage ich jetzt im Spaß, habe ich zehn Jahre lang Doppelpass geübt, nicht ein einziger ist angekommen. In dem Moment spielt er den Pass seines Lebens. Der Ball springt vorher noch auf. Ich treffe ihn mit dem Außenspann. Und er landet oben im Eck. Wenn ich ihn lehrbuchmäßig getroffen hätte, wäre es ein harmloser Roller geworden. Die ganze Geschichte hätte nicht existiert. Vielleicht hätte man mich rausgeworfen. Es war ein unglaubliches Glück. Auf allen Seiten.“

Über Weisweilers Reaktion nach dem Pokaltriumph gegen Köln sagt Netzer: „Es gab keine Reaktion. Keinen Kontakt. Er wollte es nicht. Und ich nicht, dass die Journalisten über ihn herfallen, dass ich der große Held bin, der es dem Trainer gezeigt hat. Das konnte ich nicht zulassen. Dazu hatte er zu viele große Verdienste.“

Wie haben die Fohlen um Siegtorschütze Netzer den Pokalsieg von 1973 gefeiert? Netzer sagt dazu: „Es gab ein offizielles Bankett vom DFB. Dann bin ich alleine in meine Diskothek gefahren (Netzer betrieb in Mönchengladbach das Lovers Lane, Anm. d. Red.) – ohne zu feiern. Ich habe meinen Koffer gepackt und bin nach Madrid geflogen, zu meinem neuen Verein.“

Über Hennes Weisweiler sagt Netzer: „Weisweiler hat uns alle gemacht. Er hat Borussia Mönchengladbach gemacht. Vor allem hat er mich gemacht. Er hat viele Schwierigkeiten mit mir gehabt. Fachliche, sachliche. Weil er von mir mehr verlangte als von allen anderen, wie später auch von Johan Cruyff in Barcelona und von Wolfgang Overath in Köln.“

Und weiter: „Ich habe seine Art Fußball nicht verstanden, wollte etwas anderes, einfach mal Pausen einlegen. Nicht immer nur als Gladbacher Himmelsstürmer gelobt werden, der permanent schönen Fußball spielt, doch letztendlich keine Erfolge erzielt wie die Bayern mit ihrem ökonomischen Fußball. Das war unsere Auseinandersetzung. Aber noch mal: Weisweiler hat mich gemacht. Er hatte nur vergessen, dass ich in unmöglichen Situationen meine besten Spiele gemacht habe. Auch aus lauter Wut auf seine unglaubliche Brutalität. Das hätte er im Kopf haben müssen.“

Netzer berichtet noch davon, wie er, gemeinsam mit Gladbachs Rekordspieler Berti Vogts (76) und Weisweiler sich noch einmal getroffen hatte. Netzer war da längst bei Real Madrid, Weisweiler trainierte inzwischen den FC Barcelona.

„Der hat uns in der Düsseldorfer Altstadt tatsächlich, als wir mit ihm einen trinken gingen, das Du angeboten. Doch das haben wir nie geschafft, ihn zu duzen. Wir beide nicht. Der Respekt war viel zu groß vor diesem Mann, die Anerkennung, was er für uns getan hat.“